Vor etwa 11.000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, waren die Wisente von Westeuropa über Sibirien, den Kaukasus bis in die Region des Altai-Gebirges und des Baikalsees verbreitet. Doch durch das Zerstören des Lebensraums und starke Bejagung starben sie in Westeuropa schon im 14. Jahrhundert aus. Der letzte freilebende Wisent wurde 1927 im Kaukasus getötet.
Die heutigen Wisente gehen auf 12 Individuen zurück, die in verschiedenen Zoos und Gehegen überlebt haben und so zu den Gründern einer neuen Population wurden. Heute gibt es wieder rund 7000 freilebende Wisente in Europa. Aber warum ist es so wichtig, diese Art zu erhalten?
Wisente sind die größten Landsäugetiere Europas. Wisent-Bullen können bis zu 840 kg schwer werden und eine Körperlänge von fast 3 m erreichen. Auch wenn die Kühe kleiner sind, nehmen sie wichtige Funktionen in der Herde ein: diese wird immer von einer erfahrenen Leitkuh angeführt. Abgesehen von der beeindruckenden Größe und ihrem interessanten Sozialleben haben Wisente auch praktischen Nutzen für unsere Ökosysteme, indem sie nämlich die Biodiversität fördern.
Der Begriff Biodiversität beschreibt drei Ebenen. Die erste Ebene umfasst die Anzahl der verschiedenen Varianten eines Gens innerhalb einer Art. Diese Varianten sorgen zum Beispiel dafür, dass es verschiedene Augenfarben gibt.
Die zweite Ebene beschreibt die Vielfalt der Unterarten, Arten, Gattungen und höheren Einheiten. Hierbei ist jedoch nicht die Menge, sondern die Bedürfnisse und Eigenschaften der Arten entscheidend. Dies sieht man zum Beispiel an den Orchideen, die die verschiedensten Blütenstrukturen bilden, um spezifische Bestäuber anzulocken.
Die dritte Ebene umfasst die verschiedenen Ökosysteme, mit ihren spezifischen Lebensräumen (Biotope), Lebensgemeinschaften (Biozönosen) und den darin ablaufenden Prozessen. So nutzen zum Beispiel Pflanzen die Energie des Sonnenlichts, um zu wachsen (Primärproduzenten). Sind die Pflanzen groß genug, können sie von den Tieren als Nahrung genutzt werden (Konsumenten). Die Ausscheidungen der Tiere und ihre Kadaver werden unter anderem von Bakterien und Pilzen (Destruenten) wieder zu Nährstoffen verarbeitet, die von den Pflanzen genutzt werden können.
In einem Ökosystem übernehmen die verschiedenen Organismen also spezifische Aufgaben, ohne die das Ökosystem nicht funktioniert.
Eine Vielfalt an verschiedenen Pflanzen, Tieren, Pilzen und Mikroorganismen hat nicht nur einen hohen kulturellen und ästhetischen Wert, sondern auch praktische Vorteile. Ein diverses Ökosystem zeichnet sich durch höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen klimatischen Ereignissen wie Flut, Dürre oder Sturm aus.
Dank der Leistungen und Funktionen der verschiedenen Organismen gibt es u.a. sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittel, Kraftstoffe, Baumaterialien und Medikamente. So reinigen zum Beispiel Mikroorganismen unsere Abwässer oder erneuern die Bodenfruchtbarkeit, indem sie Nährstoffe recyceln.
Der Schutz der Biodiversität ist also entscheidend für unsere Gesundheit und die des Planeten. Er ist zwingend nötig, da die zerstörerische Ausbeutung der Natur zum sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte geführt hat. Bereits über eine Millionen Arten sind vom Aussterben bedroht, darunter auch der Wisent.
Der Wisent gehört zur Gruppe der großen Pflanzenfresser (Megaherbivoren). Sie können große Auswirkungen auf ihren Lebensraum haben. Damit gehören sie zu den sogenannten Schlüsselarten. Solche Arten helfen dabei, das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten und ihr Verschwinden kann schwerwiegende Folgen haben. Wisente werden auch als “Ökoingenieure” bezeichnet.
Durch ihre Huftritte reißt die geschlossene Pflanzendecke auf, wodurch sogenannte Mikrohabitate mit besonderen Bedingungen entstehen, in denen Pflanzen mit speziellen Ansprüchen wachsen können und damit zur Artenvielfalt beitragen. Eine diversere Pflanzengemeinschaft lockt verschiedene Arten von Bestäubern, wie Bienen und Schmetterlinge, an. Auch Kröten profitieren von diesen Huftritten, da sie diese zum Laichen nutzen können. So entstehen Kleinstrukturen, die Lebensraum und Nahrung für weitere Organismen schaffen.
Auch die Hinterlassenschaften der Wisente sorgen für biologische Vielfalt. Sie locken Mistkäfer und andere Zersetzer an. Diese wiederum sind Nahrung für Vögel und Fledermäuse. Über den Kot und das Fell der Tiere werden die Samen verschiedenster Pflanzenarten über weite Strecken getragen und so im Lebensraum des Wisents verteilt. Das Fell dient den Samen beim Keimen als Energielieferant und den Vögeln als Nistmaterial.
Ein weiterer positiver Effekt ist das Sandbaden der Wisente. Wenn sie sich auf dem Boden wälzen, werden kahle Stellen mit lockerem Erdreich geschaffen. Diese Stellen werden wiederum von verschiedenen Insekten als Niststätten und Eiablageplätze genutzt. Davon profitieren Reptilien, die diese Plätze zum einen zum Sonnenbaden und zum anderen zur Nahrungsaufnahme nutzen. Zusätzlich bieten auch diese Stellen neue Habitate für Pionierpflanzen.
An diesen verschiedenen Beispielen wird deutlich, wie wichtig die Rolle des Wisents als Schlüsselart oder Ökoingenieur ist. Mit dem Aussterben der Wisente in freier Wildbahn verschwanden auch deren positive Auswirkungen auf die Organismen in ihrem Lebensraum. Das Verschwinden einer Schlüsselart gefährdet so auch das Überleben anderer Arten.